Briefe aus dem 18. Jahrhundert

Diese Sammlung soll einen kleinen Einblick verschaffen in ein Zeitalter ohne Email; als die Menschen noch Briefe schrieben und schreiben konnten. Umfang und Intensität dieser Schreibweise sind heute kaum mehr vorstellbar : Ich schreibe heute an die halbe Welt, um gelesen und beantwortet zu werden. Ich habe heute an Cramern zween Bogen voll freundschaftliches Nichts geschrieben; nach Copenhagen, nach Hamburg, nach Braunschweig, nach Dresden, nach Bernstadt in Schlesien habe ich nichts wichtiges geschrieben, und nun fange ich auch an, mit Ihnen zu plaudern. Ist dieser Tag nicht für mich ein vergnügter Tag?
Gottlieb Wilhelm Rabener

Elise Reimarus    
Inhaltsverzeichnis:
Walter Benjamin / Karl Friedrich Zelter, 1832 / 1936
Georg Forster an seine Tochter Therese (6 Jahre), 1793
Johann Heinrich Voss an Ernestine Boie,1774
Christian Friedrich Daniel Schubart an Helene Schubart, 1783
Georg Christoph Lichtenberg an G. H. Amelung, 1784
Jean Paul an Christian Otto, 1796
Moses Mendelssohn an Salomon Gumperz, 1754
Catharina Elisabeth Goethe an den Sohn in Italien, 1786
Gotthold Ephraim Lessing an Eva König, 1771
Christoph Martin Wieland an Anne Germaine de Staël, 1804

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Walter Benjamin / Johann Wolfgang von Goethe / Karl Friedrich Zelter
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.(...) Lange ehe der folgende Brief geschrieben wurde, hatte, im Alter von sechsundsiebzig Jahren, Goethe dieses Ende in einem Gesicht erfaßt, das er Zelter in folgenden Worten mitteilte: "Reichthum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wornach jeder strebt. Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Facilitäten der Communication sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren . . . Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten begabt sind. Laß uns soviel als möglich an der Gesinnung halten, in der wir herankamen; wir werden, mit vielleicht noch Wenigen, die Letzten seyn einer Epoche, die so bald nicht wiederkehrt."
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Karl Friedrich Zelter an Kanzler von Müller:
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Berlin, den 31. März 1832
Erst heute, verehrtester Mann, kann ich Ihnen für die freundschaftlichste Theilnahme danken, von welcher Art auch die Gelegenheit diesmal seyn mag.
Was zu erwarten, zu fürchten war, mußte ja kommen. Die Stunde hat geschlagen. Der Weiser steht wie die Sonne zu Gibeon, denn siehe auf den Rücken hingestreckt liegt der Mann, der auf Säulen des Hercules das Universum beschritt, wenn unter ihm die Mächte der Erde um den Staub eiferten unter ihren Füßen.
Was kann ich von ihm sagen? zu Ihnen? zu allen dort? und überall? - Wie er dahinging vor mir, sü rück´ ich Ihm nun täglich näher und werd´ Ihn einholen, den holden Frieden zu verewigen, der so viel Jahre nach einander den Raum von sechsunddreyßig Meilen zwischen uns erheitert und belebt hat.
Nun hab´ ich die Bitte: hören Sie nicht auf, mich Ihrer freundschaftlichen Mittheilungen zu würdigen. Sie werden ermessen, was ich wissen darf, da Ihnen das niemals gestörte Verhältnis zweyer, im Wesen stets einigen, wenn auch dem Inhalte nach weit voneinander entfernten Vertrauten bekannt ist. Ich bin wie eine Wittwe, die ihren Mann verliert, ihren Herrn und Versorger! Und doch darf ich nicht trauern; ich muß erstaunen über den Reichtthum, den er mir zugebracht hat. Solchen Schatz hab´ ich zu bewahren und mir die Zinsen zu Capital zu machen.
Verzeihen Sie, edler Freund! ich soll ja nicht klagen, und doch wollen die alten Augen nicht gehorchen und Stich halten. Ihn aber habe ich auch einmal weinen sehn, das muß mich rechtfertigen.

.Georg Forster an seine Tochter Therese (6 Jahre)
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An meine kleine Therese
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Meine liebe Tochter, ich schicke dir durch die Mamsell Boulanger ein Halstuch, ein Taschenbuch und einen Fingerhut. Das Halstuch thust du des Abends um, wenn du im Kühlen spazieren gehst; das Taschentuch brauchst du, wenn du bei deiner Mutter nähest, denn es ist eine Scheere[,] ein kleines Federmeßer, eine Schnürnadel und ein Ohrlöffel drin, auch ein fleckchen Tuch um Nähnadeln drauf zu stecken, und eine Tasche um Zwirn drin aufzuheben. Es ist auch ein kleiner Spiegel drin; ich rathe dir aber, daß du niemals hineinguckst, ausgenommen des Morgens, um zu sehen, ob du auch rein gewaschen bist. - Den Fingerhut wirst du fleißig beim Nähen brauchen[,] aber ich fürchte er ist dir noch zu groß; wenn das so wäre, so hebst du ihn dir auf bis du größer bist.     Ich hoffe, mein liebes Kind, daß du nun schon lesen kannst. Bald wirst du auch wohl so viel verstehen, daß du mir auch ein paar Worte zur Antwort schreibst. Ich wäre so gern bey dir und deiner Schwester und deiner Mutter; aber ich kann nicht zu euch kommen, und ihr könnt nicht zu mir, weil es nun ein schlimmer Krieg ist und wir alle kein Geld zum reisen haben. Aber ich denke alle Tage an euch, und wenn ihr gute Kinder seyd, Du und die liebe Kläre, und fleißig nähen, stricken, schreiben, lesen, französisch und alles lernt, was die Mutter euch lehrt, so wird es mir vielleicht eher möglich, euch zu besuchen und euch herzlich zu küßen. Der Kläre habe ich nur ein Halstuch geschickt, weil sie einen Fingerhut und ein Taschentuch noch nicht brauchen kann. Seyd immer recht lieb, und denkt oft an euren Vater, der euch sehr lieb hat und oft recht traurig ist, daß ihr nicht um ihn seyd. Ich will mich recht freuen wenn ich höre, daß ihr mein kleines Geschenk erhalten habt und daß es euch Freude gemacht hat.
    Die Mutter wir Euch in meinem Namen küßen und lieb haben und wenn ihr gern Euer Väterchen umarmen möchtet, so lauft nur zu ihr und schickt mir eure Küße. Das wird mir sehr viel Freude machen, wenn mirs die Mutter schreibt.
     Lebt wohl, meine lieben Kinder und habt euch lieb untereinander. Ich bin euer treuer und zärtlicher Vater       Forster.
     Paris d. 16.Junius 1793

Johann Heinrich Voss an Ernestine Boie
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Göttingen, den 18 Oct. 1774
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Komm her, mein süßes Mädchen, und sez dich auf meinen Schoß; ich will dir ein wenig erzählen. Daß ich am Sonnabend und heute vergeblich einen Brief erwartet habe, und desfalls etwas traurig geworden bin, will ich dir nicht sagen; denn du kannst ja nicht dafür. Ich will dir nur sagen, wie herrlich sich meine Gesundheit und mein froher Muth vermehrt, wie sehr ich dich liebe, und wie oft ich mit seliger Sehnsucht und Freudenthränen an dich denke. Unser lieber Vollmond herrscht jetzt wieder mit allen seinen Wonnen, und unter seinem Einfluß denkts sichs ja so schön an das was man liebt. Wenn wir doch uns durch Zeichen an ihm unterreden könnten, was solltest du bisweilen zu hören kriegen! Gar nichts schwermüthiges, nichts trauriges! meine Seele ist heiter wie Mondglanz; aber — fröhlichs doch auch nicht, denn ich weine so oft dabey. Heitre Wehmuth ist doch wohl die göttlichste Empfindung, die man hienieden haben kann. Ich glaube, sie ists, die mich jetzt so augenscheinlich stärkt. Ich bin in der That gesünder wie vorher. Mein Gesicht blüht, und Kraft ist in meinen Nerven. Ich geh alle Tage spaziren, vormittags den Wall herum, und nachmittage zu Dorfe. Eben jezt komm ich mit meinem Rudolf von Geismar, und bin so wenig müde, daß ich wohl noch einmal so weit gehen wollte. Gestern waren wir in Gronde — Je doch, Esmarch kann Ihnen nicht mehr erklären, wie weit das ist. Zweymal bin ich schon nach Scharfs Garten, eine kleine halbe Meile von hier, gegangen, und immer mit vollem Athem zurückgekommen. Wir haben einige sehr schöne Herbsttage gehabt, und die hab ich auch rechtschaffen genuzt. Gestern hatte Rudolf ein besondres Schicksal. Wir saßen in der Laube, die schon halb gelb war, ich, mit Geßners Daphnis in der Hand, und mein Pfeifchen rauchend; Rudolf voll Sehnsucht nach seinem Kaffee, und auf die Langsamkeit des Wirthes schmälend. Der Kaffee kam. Mit freudiger Eile fiel R. darüber her, und stieß Kaffee, Milch, Zucker und Feuer über den Haufen. Der Kaffee lief ihm auf den Rock, und nun hätten Sie ihn wischen, und schimpfen sehn sollen. Das Schrecklichste war, daß er nun von neuem auf den erwünschten Labetrunk harren mußte. Geßners Daphne ist vortrefflich. Ich hatt´ ihn seit etlichen Jahren nicht gelesen, und hörte neulich von Boie, es wäre nicht viel daran. Das Urtheil stammt gewiß von dem geschrobenen Geniusaffen Herder her, und ist nicht das meinige, so wenig als ich beystimmen kann, daß in Merks Gedichten an den Mond, nur ein Fünkchen, geschweige viel Genie flamme. Die naive Sprache der Liebe kennt keiner beßer als Geßner, was gehen mich kleine Flecken an? Boie hat seit 6 Wochen nicht geschrieben, wir erwarten ihn jede Stunde. Von Klopstock haben wir auch noch keinen Brief. Ich denke, daß B. bey ihm ist. Mein voriger Brief war etwas flüchtig, weil mich Böhm trieb. Ich habe vergessen dir zu sagen, daß der versprochne Schattenriß nicht bey deinem Brief lag, und daß ich alle Makulaturhüllen durchkramte, und endlich etwas ärgerlich — denk einmal — ward. Ohne Zweifel hast du deinen Brief nur in der Eile gesiegelt, und von ungefähr den Riß zurückgelaßen, und dann bekomm ich ihn nächstens. Denn zum Besten haben kannst du doch deinen armen Voß nicht. Nun laß dich küßen, meine Liebste, und steh auf, denn Hahn kommt. Morgen, oder wann´s sich fügt, plaudre ich dir mehr vor. Aber eher schick ich mein Geplauder nicht weg, bis ich deinen Brief habe. Und wo´s noch lange daurt, so soll er acht Tage hernach erst auf die Post. Ich kann auch böse werden! Kleine Schelmin, was lachst du? Wer hats dir gesagt, daß ich dich so unaussprechlich liebe, mit einer Liebe, die über alles Bösewerden erhaben ist? Aber steh auf, liebes Dirnchen! — Noch vor Schlafengehen ein paar Worte! Es war ja so unsre Gewohnheit in Flensburg, wenn ich noch meine Pfeife rauchte, und du mit bloßen Haaren neben mir oder auf meinem Schooße saßest. Du erinnerst dich wohl nicht mehr, wie oft ich die Pfeife ausgehen ließ. Heute fand Overbeck, der mit uns nach Geismar ging, ein kleines armes Vergißmeinnicht, das vielleicht der Nordwind für mich geschont hatte. Ich dachte daran, wie du auf dem Spaziergang nach dem Holze dich meiner bey diesen Blümchen erinnertest, und steckte halb traurig, halb vergnügt die ahndungsvolle Blume auf meinen Hut! Es bebte mir mit neuen Schauern durch die Seele, daß Gott uns zusammengeführt hat, und daß wir gewiß dem Tage der Verheißung entgegenhoffen können. Schlaf wohl, Liebste! du liegst wohl schon im Bette, und Tante trödelt noch mit ihrem Auszug. Träum auch ein wenig von deinem Voß! Willst du? Den 22 Oct. Vorgestern Abend kam endlich unser so sehnlich erwarteter Boie wieder. Rudolf und ich waren schon zu Bette, denn es war 11 Uhr, und Boie mochte uns nicht aufwecken. Gestern Morgen, wie ich aufstand, rief mir das Mädchen, denn alles freut sich, von unten herauf, daß Boie gekommen wäre, aber erst um 7 aufstehn würde. Ich sezte mich ganz geruhig, aber ich verbarg mich bey meinem Homer, und rauchte eine Pfeife. Rudolf, der nach mir kam, trank seinen Thee, und las. Sollte Boie heut wohl kommen? fing ich an. Ach was wollt´ er, antwortete R. mit einer halb schläfrigen halb mürrischen Mine. Ich schwieg ganz still, bis es 7 schlug. Kommen Sie, Ihr Bruder ist jezt wohl aufgestanden, sagte ich kalt zu ihm, und stieg die Treppe herauf. Da hätten Sie in seinem Gesicht Freude und Mistrauen, und Ärgerniß, und wieder Freude ringen sehn sollen. Er blieb steif sizen, bis ihm sein Bruder von oben zurief, ob er nicht kommen wollte. Und nun warens nur 3 Sprünge die Treppe herauf, und in Boiens Arm. — Von der Reise will ich Ihnen nichts erzählen, denn Sie werden ein großes Journal geschickt bekommen. Gestern war er noch sehr zerstreut, und mußt auch herumlaufen, sich zu zeigen; heute wird’s ja anders werden. — Lenz, der Verf. des Hofmeisters hat einen neuen Menoza, eine Komödie, geschrieben, die sehr schön ist. Hahn, Rudolf, Overbeck u ich lasen sie gestern zu Geismar. Und Göthe hat einen Roman gemacht, der über alles geht, was wir von Romanen haben. Ich glaube, es ist seine eigne Geschichte. Hahn las gestern Abend den ersten Theil vor, der mich ungemein gerührt hat. Es war kein Wunder, ich dachte beständig an dich, und fühlte Werthers Leiden als meine. Der Mond schien so herrlich dazu. Er scheint gerade in unsre neue Schlafkammer in mein Bette. Als ich mich gelegt hatte, zog ich die Gardinen zurück, und lag wohl eine halbe Stunde, die Augen auf den Mond. Allein ich ward wehmüthig, kehrte mich nach der Wand, und schlief mit naßen Augen ein. Den 23. Wieder kein Brief! Mädchen du bist grausam! Boie wollte erst bis Donnerstag mit der Versendung seines Paket warten, jetzt entschließt er sich, heute gleich es weckzuschicken. Ich muß also meinen Brief endigen. Reinhold, der über diese Aenderung wieder keinen Brief bekommt, wird mir als ein Bruder vergeben. Ich habe heute auch noch wegen des Almanachs an Klopstock zu schreiben. Boie geht Weihnachten ganz von hier, u überläßt mir den Alm, den ich auf Subscription herauszugeben denke. Ich muß nur mit Kl. über die neue Einrichtung und über die Art der Ankündigung sprechen. Boie schreibt morgen an Bode u ich an Mumsen, mir einen Vorschuß von 500 rl: auszumachen. Wenn Gott will, so bin ich durch dies kleine Buch der freyeste Mann, und kann mit Ruhe einem Amt entgegen sehn. Es wird vielleicht nötig seyn, ihn, des Verschickens halber, in Hamburg, Leipzig oder Frankfurth herauszugeben; am liebsten in Hamburg, da bin ich nur 20 Meilen von meiner Ernestine. Mit der wenigsten und leichtesten Arbeit, und unabhänglich, könnte ich jährlich gegen 1000 rl: und darüber verdienen. An Beyträgen kanns mir nicht fehlen; außer dem Bunde kann ich noch auf Claudius, Göthe, Lenz, dem alten Cramer pp gewiß rechnen. Ich hoffe auch, daß sie mir erlauben werden, sie in der Anzeige als Mitarbeiter anzugeben. Bald werd´ ich Ihnen nähere und gewißere Nachricht von dieser herrlichen Aussicht geben. Gestern kam ein Brief von Miller u Hölty aus Leipzig, daß sie glücklich und zufrieden angelangt sind. Hölty versichert mich von neuem, daß alles zur Reise ausgemacht sey. Wir haben Bücher zum Uebersetzen und gute Verleger, so daß es Spielwerk ist, das Reisegeld zu verdienen. Beyde empfehlen sich Ihnen, und Hölty läßt sie ersuchen, ja nicht an der Gewißheit unsers Vorhabens zu zweifeln. Klopstock sagte einmal zu mir: Man kann alles, was man will. Sie glauben nicht, wie fröhlich der Gedanke mein Herz macht, der Gedanke eines so nahen Wiedersehns. Wie befindet sich unsre liebe Wöchnerin mit ihren kleinen? Davon sollten Sie doch etwas schreiben. Sie können doch denken, daß wir unruhig seyn müßen. Herr Jeßens Glück erfreut mich desto mehr, je mehr ich seinen Schmerz vor einem Jahr empfunden, und jetzt für ihn gezittert habe. Wenn Sie Esmarch schreiben, so grüßen Sie ihn, und sagen daß er mit dem allerersten einen Brief haben sollte. Von Brücknern hab´ ich lange keinen Brief. In dem letzten stand ein Gruß an Sie alle, den ich wohl schon bestellt habe. Ramlers lyrische Blumenlese ist da: fast lauter französische und englische Uebersetzungen mit wizigen zugespizten Ausgängen, ohn Empfindung, ohn Gesang, gar ein Gedicht von Ewald! — ich weiß nicht, was ich von Ramler denken soll. Von Millern keine Zeile! Im neuen Merkur soll die Gelehrten Republik sehr hämisch getadelt seyn. Nur Geduld, Herr Hofrath Wieland! — Im neuen Menoza wird Wieland von einem leipziger Stuzer zu den größten Genies der Welt, Beßer, Gellert, Rabner, Uz, Jacoby, gezählt. Es ist ein schöner Einfall, Wieland von einem solchen Tropf und in einer solchen Gesellschaft loben zu laßen. In Göthens Roman wird Klopstock auf eine ganz andre Art erwähnt; das feinste, seelenvollste Lob, was ich kenne! Sie müßtens selbst lesen. Göthe ist ein großes Genie. Sein Roman ist auch weit correcter, als was er sonst geschrieben. — Küßen Sie unsere theuersten Eltern in meinem Namen die Hände. Klopstocks Schattenriß ist ganz ähnlich. Ach wenn ich so Ihres hätte! Dietrich hat noch die Musikalien nicht, daß ich Ihnen gebundne Almanache schicken könnte. Herrn Jeßen sollen auch bald die Exemplare zugeschickt werden. Klopstock ist mit vieler Freude von Markgrafen bewillkommt, und jetzt nach Fryburg, in der Schweiz gereist. Er wird wohl bald schreiben. Leben Sie wohl, meine Theuerste, und lieben Sie mich. Ich glaube, daß ist der 4te Brief ohne Antwort, und doch sind Sie immer mein liebes Ernestinchen, immer ganz und allwirkend in meiner Seele. So füllt die Gottheit die Welt.
Ich bin ewig Dein                                                                                                   Voß.
 

Christian Friedrich Daniel Schubart an Helene Schubart
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Asperg, den 2ten Oktober 1783
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     Liebste beste Mutter!
Tausend Dank vor das mütterliche Andenken, womit Sie Ihren armen gefangenen Sohn erfreuen. Nach 7 Jahren einen Brief von einer lieben, mir so unausprechlich teuren Mutter erhalten, die mich noch im grauen Haare ihrer Liebe versichert und mir ihren Segen auf dem Sterbebett verspricht, ist wahre Herzstärkung für den Lang-Leidenden. O! liebe Mutter, Ihr Christian mußte viel leiden; 377 Tage lag ich auf faulem Stroh in einem finstern Loch, und 3 andere Jahre schmachtete ich in der Einsamkeit hin, bei elender Kost, ohne den tröstenden Anblick des Menschen — ohne Mutter, Weib, Kinder, Freund. Für alle meine Jugend-Sünden hab ich schrecklich gebüßt und mit tausend Tränen meinem Gott jedes Herzenleid abgebeten, das ich meinen lieben Eltern machte. O, wie oft hab ich da vor Gott in heißen Gebeten für meine liebe graue Mutter gerungen und ihr ein ruhiges Alter, ein sanftes christliches Ende und die mit Jesu Blut erkaufte Freuden des Himmels in reichsten Maße angewünscht. — Nun, Gott hat meine Tränen gesehen — und mir verziehen — ahmen Sie Gott nach, gütigste Mutter, und verzeihen Sie mir auch. Es war Leichtsinn, wann ich Sie betrübte, und nie Mutwille. Immer hab ich Sie kindlich geliebt. Entziehen Sie mir also Ihren mütterlichen Segen nicht, denn ich bedarf ihn.
     Das daurende schwere Leiden von innen und außen hat meine Gesundheit so geschwächt, daß ich denke, ich werde noch vor Ihnen sterben. Aber ich sterbe gern: ich habe Versöhnung im Blute Jesu gefunden und freue mich auf jene Welt, wo ich meinen Vater und meine Mutter und meine Lieben alle wiederfinden werde, — und wo Gott abwischen wird alle Tränen — auch die im Kerker geweinte Tränen, von unsern Augen.
     Daß Sie noch leben, beste Mutter, ist viel Gnade von Gott, und daß Ihre 2 jüngste Kinder die beste Ämter der Stadt Aalen begleiten, ist ein großer Trost vor Sie, der Ihnen das bittere Andenken an das traurige Schicksal Ihres ältesten Sohnes um vieles versüßen muß. Genießen Sie dies Vergnügen bis ins graueste Alter, und weihen Sie meinem Andenken zuweilen eine mütterliche Zähre. Denn Gott sammelt der frommen Witwen Tränen. — 
     Von ein paar Vorwürfen erlauben Sie mir, mich loszumachen.
     1) Gibt man mir nicht so viel, daß ich mich betrinken kann.
     2) Hat mich lange Geduld gelehrt, zu schweigen und alles dem heimzustellen, der da recht richtet. — 
     3) Hab ich schon einmal an den Herzog geschrieben, aber es ist nichts darauf erfolgt.
     Und endlich, wie können Sie glauben, daß mich der Umgang mit dem sklavischen Soldatenvolk reizen könne, den Trieb nach Freiheit zu ersticken? Selbst Besuche von Prinzen, Ministers, Grafen, großen Damen und einer Menge berühmter Männer, womit ich bisher beehrt wurde, haben dies noch bewirken können. Gott und meinem Vaterland zu dienen ist die Achse, um welche sich alle meine Wünsche drehen. Aber bin ich bis her nicht müßig gewesen; ich habe Bücher geschrieben, Musiken komponiert, die mit der Zeit der Welt mitgeteilt werden sollen, und informiere von Morgen bis in die Nacht. Müßig kann mein Geist nie sein. Inzwischen frißt mir die Sehnsucht nach Freiheit das Herz ab, und allen Beistand Gottes hab ich nötig, in meinem eisernen Jammer auszuharren.
     Und nun bitt ich die liebe Mutter, einen Schritt für meine Rettung zu tun; beiliegendes Schreiben in Ihrem Namen abschreiben zu lassen und es durch einen guten Kanal an den Kaiser zu schicken. O wie sollt es mich freuen, wann ich, so wie meine erste Geburt ins Licht, auch die zweite Geburt in die Freiheit meiner lieben Mutter zu danken hätte! Wie würde sie Gott dafür lohnen!
     Ich nehme noch nicht Abschied von Ihnen. Vielleicht sehen wir noch einander und preisen Gott für die wunderbare Errettung.
     Gott laß es Ihnen wohlgehen, beste Mutter. Beten Sie fleißig für Ihren armen Christian. Wenn ich ein Verbrecher wäre, würd ich Sie nicht darum bitten. Gott, der Allbarmherzige, wirds wohlmachen. Lieben Sie mich immer, gute Mutter, dann ich liebe Sie bis in den Tod. Mit Tränen nenn ich mich
                            der besten Mutter
                                                      leidenden und gehorsamen Sohn
                                                                         Christian
 

Georg Christoph Lichtenberg an Gottfried Hieronymus Amelung
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Göttingen den 26ten Märtz 1784.
Mein bester Freund,
Ihre vortrefflichen, von wahrer Freundschafft gantz überfließenden Briefe lese ich mit unbeschreiblichem Vergnügen; wenn ich sie durchgelesen habe, so fühle und träume ich sie durch, und dieses Gefühl und diese Träume dauern offt 10, 20mal die Zeit des Lesens. Wenn mich doch der Himmel so glücklich machte einen solchen Freund in der Stadt zu haben, dieses und etwas mehr Gesundheit ist alles was ich wünsche, wegen des übrigen bin ich Gottlob geborgen.
     Die Erzählung von Ihrer Frau Liebsten und Ihren Kindern ist gantz entzückend für mich gewesen. Es ist traurig, daß ich in einem Stand lebe, wo man so gar nicht einmal, nach den Begriffen der Welt frey sagen darf, daß man verstehen gelernt hat, was es für ein Glück seyn muß eine rechtschaffene Gattin u gute Kinder zu haben — Ich schließe diesen Artickel mit einem Strich und überlasse es Ihnen die Lücke mit freundschafftlichem Hertzen auszufüllen. Empfehlen Sie mich Ihrem gantzen Hause tausendmal und entwickeln Sie jedem Mitglied desselben mit Mi[t]leid gegen mich, so viel von meiner hier unterdrückten Empfindung als es die Weltkenntniß eines jeden und mein Credit bey jedem verträgt. — 
     Ich habe seit dem Empfang Ihres letzten bei mir so unschäzbaren Briefes nicht eher als heute schreiben können, sonst hätte ich Ihnen eher gesagt, daß der brave Mann, den Sie an mich geschickt haben, gantz gesund, wiewohl schon vor geraumer Zeit, bey mit gewesen ist. Ich will nicht hoffen, daß dem guten Mann etwas begegnet ist.
     Unsere Schule ist zwar an sich gut, allein sehr viel vorzügliches hat sie nicht, daher auch die hiesigen Professoren ihre Kinder öffters auswärts schicken. Göttingen ist ein verführerischer Ort, wo ein junger Mensch gnauere Aufsicht nötig hat, als in mancher grosen Stadt, um nicht vor der Zeit hingerissen zu werden, und das was er für einen so jungen Menschen gutes haben mögte ist sicherlich der Kosten nicht werth. Als Universität wird er seine Vorzüge allzeit behaupten, ist der kleine einmal dazu reif, so erwarte ich ihn mit Vergnügen, u ich will Ihnen alsdann alles so sehr zu erleichtern suchen als meine Lage und Umstände gestatten.
     Die Würste sind angeschafft und hängen würcklich auf meiner Bibliothek zwischen den Wercken Shakespeare´s und Hume´s. Zeigen Sie mir nur eine Gelegenheit an wie ich sie sicher nach Ihnen hinbringe. Allenfalls nur eine Adresse in Fuld, bis dahin gehen sie wohl mit Fuhrleuten. Ich erwarte hierüber Ihre Befehle. Alsdann soll auch der praktische Unterricht sie zu essen zugleich erfolgen. Vielleicht findet sich auch bald einmal eine Gelegenheit Ihnen zu einem guten Thermometer und Barometer zu verhelfen. Ich habe zwar eine Menge, aber doch eigentlich keines doppelt, sonst packte ich gleich ein Paar bey die Würste.
     Den Mann der Ihren letzten Brief gebracht hat, habe ich selbst nicht gesehen. Er wird aber wieder kommen. Ich bekomme mein Siegellack von Dieterich, der es von Quedlinburg erhält. Der Fabricant versteht seine Sache recht gut, und ich habe schon über 10 Pfunde nach England schicken müssen. Auf dem Umschlag der Pfunde steht auch sehr trotzig:

sans privilége, mais approuvé
comme s´il étoit privilegié.

     Ich werde die Ehre haben Ihnen durch den Mann mit ein Paar Stangen aufzuwarten.
     Lieben Sie mich fernerhin und leben Sie recht wohl.
                                                                             GCLichtenberg.


Jean Paul: Goethe liest ein Gedicht vor ...  An Christian Otto
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[Weimar,] d. 18 Jun. Sonnabends. [1796]
Schon am zweiten Tage warf ich hier mein dummes Vorurteil für große Autores ab als wären´s andere Leute; hier weiß jeder, daß sie wie die Erde sind, die von weitem im Himmel als ein leuchtender Mond dahinzieht und die, wenn man die Ferse auf ihr hat, aus boue de Paris besteht und einigem Grün ohne Juwelennimbus. Ein Urteil, das ein Herder, Wieland, Göthe etc. fällt, wird so bestritten wie jedes andere, das noch abgerechnet daß die 3 Turmspitzen unserer Literatur einander — meiden. Kurz ich bin nicht mehr dumm. Auch werd´ ich mich jetzt vor keinem großen Mann mehr ängstlich bücken, bloß vor dem tugendhaftesten. Gleichwohl kam ich mit Scheu zu Göthe. Die Ostheim und jeder malte ihn ganz kalt für alle Menschen und Sachen auf der Erde — Ostheim sagte, er bewundert nichts mehr, nicht einmal sich — jedes Wort sei Eis, zumal gegen Fremde, die er selten vorlasse — er habe etwas steifes reichstädtisch Stolzes — bloß Kunstsachen wärmen noch seine Herznerven an (daher ich Knebel bat, mich vorher durch einen Mineralbrunnen zu petrifizieren und inkrustieren damit ich mich ihm etwan im vorteilhaften Lichte einer Statue zeigen könnte — Ostheim rät mir überall Kälte und Selbstbewußtsein an). Ich ging, ohne Wärme, aus bloßer Neugierde. Sein Haus (Palast) frappiert, es ist das einzige in Weimar in italienischem Geschmack, mit solchen Treppen, ein Pantheon voll Bilder und Statuen, eine Kühle der Angst presset die Brust —endlich tritt der Gott her, kalt, einsilbig, ohne Akzent. Sagt Knebel z.B., die Franzosen ziehen in Rom ein. «Hm!» sagt der Gott. Seine Gestalt ist markig und feurig, sein Auge ein Licht (aber ohne eine angenehme Farbe). Aber endlich schürete ihn, nicht bloß der Champagner sondern die Gespräche über die Kunst, Publikum etc. sofort an, und  — man war bei Göthe. Er spricht nicht so blühend und strömend wie Herder, aber scharf-bestimmt und ruhig. Zuletzt las er uns — d.h. spielte er uns* — ein ungedrucktes herrliches Gedicht vor, wodurch sein Herz durch die Eiskruste die Flammen trieb, so daß er dem enthusiastischen Jean Paul (mein Gesicht war es, aber meine Zunge nicht, wie ich denn nur von weitem auf einzelne Werke anspielte, mehr der Unterredung und des Beleges wegen,) die Hand drückte. Beim Abschied tat er´s wieder und hieß mich wiederkommen. Er hält seine dichterische Laufbahn für beschlossen. Beim Himmel wir wollen uns doch lieben. Ostheim sagt, er gibt nie ein Zeichen der Liebe. 1 000 000 Sachen hab´ ich Dir von ihm zu sagen 
     Auch frisset er entsetzlich. Er ist mit dem feinsten Geschmack gekleidet. —  — 
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* Sein Vorlesen ist nichts als ein tieferes Donnern vermischt mit dem leisen Regengelispel: es gibt nichts Ähnliches.

Moses Mendelssohn:  Gegen Michaelis an Salomon Gumperz

Mein Herr,
Ich überschicke Ihnen hier das 70. Stück der <Göttingschen gelehrten Anzeigen>. Lesen Sie den Artikel von Berlin. Die Herren Anzeiger rezensieren den 4. Teil der Lessingschen Schriften, die wir so oft mit Vergnügen gelesen haben. Was glauben Sie wohl, daß sie an dem Lustspiele <Die Juden> aussetzen? Den Hauptcharakter, welcher, wie sie sich ausdrücken, viel zu edel und viel zu großmütig ist. Das Vergnügen, sagen sie, das wir über die Schönheit eines solchen Charakters empfinden, wird durch dessen Unwahrscheinlichkeit unterbrochen, und endlich bleibt in unserer Seele nichts als der bloße Wunsch für sein Dasein übrig. Diese Gedanken machten mich schamrot. Ich bin nicht imstande, alles auszudrücken, was sie mich haben empfinden lassen. Welche Erniedrigung für unsere bedrängte Nation! Welch übertriebene Verachtung! Das gemeine Volk der Christen hat uns von jeher als den Auswurf der Natur, als Geschwüre der menschlichen Gesellschaft angesehen. Allein, von gelehrten Leuten erwarte ich jederzeit eine billigere Beurteilung; von diesen vermute ich die uneingeschränkte Billigkeit, deren Mangel uns insgemein vorgeworfen zu werden pflegt. Wie sehr habe ich mich geirrt, als ich einem jeden christlichen Schriftsteller so viel Aufrichtigkeit zutrauete, als er von andern fordert.
     In Wahrheit! mit welcher Stirne kann ein Mensch, der noch ein Gefühl der Redlichkeit in sich hat, einer ganzen Nation die Wahrscheinlichkeit absprechen, einen einzigen ehrlichen Mann aufweisen zu können? Einer Nation, aus welcher, wie sich der Verfasser der <Juden> ausdrückt, alle Propheten und die größten Könige aufstanden? Ist sein grausamer Richterspruch begründet? Welche Schande für das menschliche Geschlecht! Unbegründet? Welche Schande für ihn!
     Ist es nicht genug, daß wir den bittersten Haß der Christen auf so manche grausame Art empfinden müssen; sollen auch diese Ungerechtigkeiten wider uns durch Verleumdungen gerechtfertigt werden?
     Man fahre fort, uns zu unterdrücken, man lasse uns beständig mitten unter freien und glücklichen Bürgern eingeschränkt leben, ja man setze uns ferner dem Spotte und der Verachtung aller Welt aus; nur die Tugend, den einzigen Trost bedrängter Seelen, die einzige Zuflucht der Verlassenen, suche man uns nicht gänzlich abzusprechen.
     Jedoch man spreche sie uns ab, was gewinnen die Herren Rezensenten dabei? Ihre Kritik bleibet dennoch unverantwortlich. Eigentlich soll der Charakter des reisenden Juden (ich schäme mich, wann ich ihn von dieser Seite betrachte) das Wunderbare, das Unerwartete in der Komödie sein. Soll nun der Charakter eines hochmütigen Bürgers, der sich zum türkischen Fürsten machen läßt, so unwahrscheinlich nicht sein als eines Juden, der großmütig ist? Laßt einen Menschen, dem von der Verachtung der jüdischen Nation nichts bekannt ist, der Aufführung dieses Stückes beiwohnen; er wird gewiß während des ganzen Stückes für Langeweile gähnen, ob es gleich für uns sehr viele Schönheiten hat. Der Anfang wird ihn auf die traurige Betrachtung leiten, wie weit der Nationalhaß getrieben werden könne, und über das Ende wird er lachen müssen. Die guten Leute, wird er bei sich denken, haben doch endlich die große Entdeckung gemacht, daß Juden auch Menschen sind. So menschlich denkt ein Gemüt, das von Vorurteilen gereinigt ist.
     Nicht daß ich durch diese Betrachtung dem Lessingschen Schauspiele seinen Wert entziehen wollte; keineswegs! Man weiß, daß sich der Dichter überhaupt, und insbesondere, wenn er für die Schaubühne arbeitet, nur nach der unter dem Volke herrschenden Meinung zu richten habe. Nach dieser aber muß der unvermutete Charakter des Juden eine sehr rührende Wirkung auf die Zuschauer tun. Und insoweit ist ihm die ganze jüdische Nation viele Verbindlichkeit schuldig, daß er sich die Mühe gibt, die Welt von einer Wahrheit zu überzeugen, die für sie von großer Wichtigkeit sein muß.
     Sollte diese Rezension, diese grausame Seelenverdammung, nicht aus der Feder eines Theologen geflossen sein? Diese Leute denken der christlichen Religion einen großen Vorschub zu tun, wenn sie alle Menschen, die keine Christen sind, für Meichelmörder und Straßenräuber erklären. Ich bin weit entfernt, von der christlichen Religion so schimpflich zu denken; das wäre ohnstreitig der stärkste Beweis wider ihre Wahrhaftigkeit, wenn man, sie festzustellen, alle Menschlichkeit aus den Augen setzen müßte.
     Was können uns unsere strengen Beurteiler, die nicht selten ihre Urteile mit Blut versiegeln, Erhebliches vorrücken? Laufen nicht alle ihre Vorwürfe auf den unersättlichen Geiz hinaus, den sie, vielleicht durch ihre eigene Schuld, bei dem gemeinen jüdischen Haufen zu finden frohlocken? Man gebe ihnen dieses zu; wird es denn deswegen aufhören, wahrscheinlich zu sein, daß ein Jude einem Christen, der in räuberische Hände gefallen ist, das Leben gerettet haben sollte? Oder wenn er es getan, muß er sich notwendig das edle Vergnügen, seine Pflicht in einer so wichtigen Sache beobachtet zu haben, mit niederträchtigen Belohnungen versalzen lassen? Gewiß nicht! Zuvoraus, wenn er in solchen Umständen ist, in welche der Jude im Schauspiele gesetzt worden.
     Wie aber, soll dieses unglaublich sein, daß unter einem Volke von solchen Grundsätzen und Erziehung ein so edles und erhabenes Gemüt sich gleichsam selbst bilden sollte? Welche Beleidigung! So ist alle unsere Sittlichkeit dahin! So regt sich in uns kein Trieb mehr für die Tugend! So ist die Natur stiefmütterlich gegen uns gewesen, als sei die edelste Gabe unter den Menschen ausgeteilt, die natürliche Liebe zum Guten! Wie weit bist du, gütiger Vater, über solche Grausamkeit erhaben!
     Wer Sie näher kennt, teuerster Freund, und Ihre Talente zu schätzen weiß, dem kann es gewiß an keinem Exempel fehlen, wie leicht sich glückliche Geister, ohne Vorbild und Erziehung, emporschwingen, ihre unschätzbaren Gaben ausarbeiten, Geist und Herz bessern und sich in den Rang der größten Männer erheben können. Ich gebe einem jeden zu bedenken, ob Sie, großmütiger Freund, nicht die Rolle des Juden im Schauspiel übernommen hätten, wenn Sie auf Ihrer gelehrten Reise in seine Umstände gesetzt worden wären. Ja ich würde unsere Nation erniedrigen, wenn ich fortfahren wollte, einzelne Exempel von edlen Gemütern anzuführen. Nur das ihrige konnte ich nicht übergehen, weil es so sehr in die Augen leuchtet und weil ich es allzu oft bewundere.
     Überhaupt sind gewisse menschliche Tugenden den Juden gemeiner als den meisten Christen. Man bedenke den gewaltigen Abscheu, den sie für eine Mordtat haben. Kein einziges Exempel wird man anführen können, daß ein Jude (ich nehme die Diebe von Profession aus) einen Menschen ermordet haben sollte. Wie leicht wird es aber nicht manchem sonst redlichen Christen, seinem Nebenmenschen für ein bloßes Schimpfwort das Leben zu rauben? Man sagt, es sei Niederträchtigkeit bei den Juden. Wohl! wenn Niederträchtigkeit Menschenblut verschont, so ist Niederträchtigkeit eine Tugend.
     Wie mitleidig sind sie nicht gegen alle Menschen, wie milde gegen die Armen beider Nationen? Und wie hart verdient das Verfahren der meisten Christen gegen ihre Armen genennt zu werden? Es ist wahr, sie treiben diese beiden Tugenden fast zu weit. Ihr Mitleiden ist allzu empfindlich und behindert beinah die Gerechtigkeit, und ihre Mildigkeit ist beinah Verschwendung. Allein, wenn doch alle, die ausschweifen, auf der guten Seite ausschweifeten.
     Ich könnte noch vieles von ihrem Fleiße, von ihrer bewundernswürdigen Mäßigkeit, von ihrer Heiligkeit in den Ehen hinzusetzen. Doch schon ihre gesellschaftliche Tugenden sind hinreichend genug, die <Göttingsche Anzeigen> zu widerlegen; und ich betaure den, der eine so allgemeine Verurteilung ohne Schauern lesen kann. Ich bin etc.


Catharina Elisabeth Goethe : Brief an den Sohn in Italien

Frankfurth den 17 November 1786.

Lieber Sohn!

Eine Erscheinung aus der Unterwelt hätte mich nicht mehr in Verwunderung setzen können als dein Brief aus Rom – Jubeliren hätte ich vor Freude mögen daß der Wunsch der von frühester Jugend an in deiner Seele lag, nun in Erfüllung gegangen ist – Einen Menschen wie du bist, mit deinen Kentnüßen, mit dem reinen großen Blick vor alles was gut, groß und schön ist, der so ein Adlerauge hat, muß so eine Reiße auf sein gantzes übriges Leben vergnügt und glücklich machen – und nicht allein dich sondern alle die das Glück haben in deinem Wirckungs kreiß zu Leben. Ewig werden mir die Worte der Seeligen Klettenbergern im Gedächtnüß bleiben. «Wenn dein Wolfgang nach Maintz reißet bringt Er mehr Kentnüße mit, als andere die von Paris und London zurück kommen» – Aber sehen hätte ich dich mögen beym ersten Anblick der Peters Kirche!!! Doch du versprichts ja mich in der Rückreiße zu besuchen, da mußt du mir alles Haarklein erzählen. Vor ohngefähr 4 Wochen schrieb Fritz von Stein er wäre deinetwegen in großer Verlegenheit – kein Mensch selbst der Herzog nicht, wüste wo du wärest – jedermann glaubte dich in Böhmen u. s. w. Dein mir so sehr lieber und Intressanter Brief vom 4ten November kam Mittwochs den 15 ditto Abens um 6 Uhr bey mir an – Denen Bethmännern habe ihren Brief auf eine so drollige Weiße in die Hände gespielt, daß sie gewiß auf mich nicht rathen. Von meinem innern und äußern Befinden folgt hir ein genauer und getreuer Abdruck. Mein Leben fließt still dahin wie ein klahrer Bach – Unruhe und Getümmel war von jeher meine sache nicht, und ich dancke der Vorsehung vor meine Lage – Tausend würde so ein Leben zu einförmig vorkommen mir nicht, so ruhig mein Cörpper ist; so thätig ist das was in mir denckt – da kan ich so einen gantzen geschlagenen Tag gantz alleine zubringen, erstaune daß es Abend ist, und bin vergnügt wie eine Göttin – und mehr als vergnügt und zufrieden seyn, braucht mann doch wohl in dieser Welt nicht. Das neueste von deinen alten Bekandten ist, daß Papa la Roche nicht mehr in Speier ist, sondern sich ein Hauß in Offenbach gekauft hat, und sein Leben allda zu beschließen gedenckt. Deine übrigen Freunde sind alle noch die sie waren, keiner hat so Rießenschritte wie du gemacht |: wir waren aber auch imer die Lakqeien sagte einmahl der verstorbene Max Moors :| Wenn du herkomst so müßen diese Menschen Kinder alle eingeladen und herrlich Tracktiert werden – Willprets Braten Geflügel wie Sand am Meer – es soll eben pompos hergehen. Lieber Sohn! Da fält mir nun ein Unthertäniger Zweifel ein, ob dieser Brief auch wohl in deine Hände kommen mögte, ich weiß nicht wo du in Rom wohnst – du bist halb in Conito |: wie du schreibst :| wollen das beste hoffen. Du wirst doch ehe du komst noch vorher etwas von dir hören laßen, sonst glaube ich jede Postschäße brächte mir meinen einzig geliebten – und betrogne Hoffnung ist meine sache gar nicht. Lebe wohl Bester! und gedencke öffters an
         deine treue Mutter
         Elisabetha Goethe.
 


Gotthold Ephraim Lessing an Eva König

[Braunschweig, den 12. Mai 1771.]

Meine liebste Freundin!
 
    Unsere Briefe sind einander begegnet. Aber ohne daß ich wissen konnte, was der Ihre enthalte, wird meiner so gut, als eine Antwort darauf gewesen sein. Ist es nur möglich, daß Sie mich so falsch verstehen können? Ich sollte keine Nachricht von Ihnen erwarten, keine Nachricht von Ihnen wünschen - als nur über den einen Punkt? Und warum sollte mich denn dieser eine Punkt interessieren, wenn mir nicht jede Kleinigkeit, die Sie betrifft, eben so interessant wäre? -
 
    Doch Sie erklären Ihren Argwohn selbst für einen hypochondrischen Einfall, und in eben dem Augenblicke erhalte ich auch Ihren zweiten Brief, in welchem Sie mir etwas mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Nur bei weitem noch nicht alle, die ich verlangen kann. Ich habe freilich, leider, Briefe genug zu schreiben, und würde deren noch viel mehr zu schreiben haben, wenn ich es meinen Correspondenten nicht allzuoft zu verstehen gäbe, wie ungern ich überhaupt Briefe schreibe, sobald Briefe etwas anders sein sollen, als freundschaftliche Plauderei mit einem Abwesenden. Den meisten von den Herren, denen ich antworten muß, wenn wir an einem Orte zusammen lebten, würde ich vielleicht nicht Jahr und Tag unter die Augen kommen: was kann ich für Lust haben, an Leute zu schreiben, mit denen ich nur sehr selten Lust haben würde, zu sprechen? Wie wenig aber das mein Fall mit Ihnen ist, das müßten Sie ja wohl von Ihrem Aufenthalt in Braunschweig wissen, wenn Sie es auch sonst nicht wissen könnten. Wie sehr habe ich Sie immer da belagert gehalten? Und immer ist es mir zu spät eingefallen, daß ich Ihnen überlästig sein müsse.
 
    Ich sehe es Voraus, wenn ich diesen Sommer nach Hamburg komme, daß ich es nicht besser machen werde. Ich werde sicherlich nur allzuoft um Ihnen sein. Aber eben daher erlauben Sie mir auch, daß ich mich Ihres gütigen Anerbietens, das Logis bei Ihnen zu nehmen, nicht bediene. Sie würden keinen Augenblick vor mir Ruhe haben: und ich will überhaupt keinem meiner Freunde die geringste Unruhe verursachen. Ich will in meinem alten schwarzen Adler wieder absteigen, wo ich niemanden belästige, und wo ich um so viel mehr Herr von meiner Zeit und von meinen Besuchen bleibe. Desto schlimmer, wenn sich unser Zirkel so sehr erweitert hat. Besser ist er dadurch gewiß nicht geworden, und weder der Hamburgische Adel noch die Hamburgischen Katsverwandten sind jemals sehr nach meinem Geschmacke gewesen. Am besten also, wir machen sodann einen ganz kleinen Ausschuß von unserm alten Zirkel, und bleiben unter uns.
 
    Auf Madam Sch[midt] habe ich sechs Tage in Braunschwcig gewartet, und ich würde sie sicherlich noch länger erwartet haben, wenn sie mir es nicht endlich abgeschrieben hätte. Ich hätte es voraus wissen können, daß aus ihrer Durchkunft nichts werden würde, da sie mit einem so ungefälligen Peter reisete. Reisen Sie, meine liebe Freundin, immer lieber ganz allein, wenn Sie ja einmal wieder reisen müssen! Zwar wenn ich bedenke, daß es nicht immer ungefällige Reisegefährten sind, daß es öfters auch das eigene Hypochonder sein kann, welches die besten Anschläge zu nichte macht - Wahrlich, Sie sind sehr grausam, daß Sie mir es nun erst hinten nach bekennen, es sei Ihr Wille gewesen, sich einige Tage länger in Braunschweig aufzuhalten! Und was trieb Sie denn also? An meinen Bitten hätte es gewiß nicht fehlen sollen, wenn ich nicht um Etwas zu bitten gefürchtet, was ganz wider Ihren Willen sei. Gleichwohl werde ich mich desfalls an Ihnen nicht rächen, sondern ich werde sicherlich bis auf den letzten Augenblick in Hamburg bleiben, als ich nur immer bleiben kann. - Mit künftiger Post muß ich schon einmal wieder an den V[etter] schreiben; denn wenn ich es, wie wir ausgemacht haben, nicht wenigstens immer auf seinen zweiten Brief tue, so bekomme ich nie einen wieder von ihm. Gänzlich mich aber um seine Correspondenz zu bringen, möchte ich nicht gern. Sie ist so lehrreich, so erbaulich - Wenn ihn nur nicht der verdammte Lottologist um alle seine gute Laune gebracht hat. Doch ich hoffe, er wird auch das bald abgeschüttelt haben; um so mehr, da ich sehr gewiß zu sein glaube, daß man ihm von Str[alsund] aus nichts vorzuwerfen haben kann. Ihm aber das Schicksal seines Bruders mit aufzumutzen, das ist niederträchtiger, als beißend. Und auch daher schon halte ich es nicht für möglich, daß Sch[midt] an solchen Nichtswürdigkeiten Teil haben sollte.
 
    Daß aber sein liebes G[ustavchen] doch nun auch von der Lesegesellschaft ist, das muß er mir zu verschweigen seine Ursachen gehabt haben. Nun will ich auch gern um so viel weniger von der Gesellschaft selbst anders als mit der größten Hochachtung sprechen. Ehe ich mir es versehe, sind Sie, meine liebe Freundin, wohl auch selbst davon? Und warum sollten Sie nicht? Lassen Sie sich von der alten B[orgeest] nicht abhalten. Die bei Klopstocks Messias Nase und Maul aufsperren zu sehen, würde mir selbst lächerlich vorkommen. Aber ich wette was, daß doch ihre Tochter Madam B[ostel] unter die Mitglieder gehört: denn ihr Mann selbst ist eine viel zu große Stütze des Parnasses. Folgen Sie also immer dem Exempel der Tochter, und lassen Sie die Mutter schmähen.
 
    Der Kitt zum Porcellain bestehet aus geronnener Milch und gelöschtem Kalke; nur muß jene ganz ohne Rahm sein, und durch ein Tuch rein ausgedruckt werden. Sodann nehmen Sie drei Teile dieser geronnenen Milch und ein Teil von dem gelöschten Kalke, streichen es mit der Messerspitze gut durch einander, und leimen damit, was Sie leimen wollen. - Wenn es so lange hält, als unsre Freundschaft halten soll, so ist es ein Kitt, den wir loben wollen.
 
    Leben Sie recht wohl, meine Beste; und Gott sei Dank, daß unsere Briefe nicht mehr vierzehn Tage laufen dürfen! Dero etc.
 
    Wolfenbüttel! - - - wegen des Datums. Ich datiere immer recht. Aber der Fehler kann manchmal darin sein, daß meine Briefe in ßraunschweig liegen blieben, weil ich nur immer nachsehe, wenn die Briefe von Braunschweig abgehen, und öfters vergesse, daß ich sie einen Tag vorher dahin abschicken muß. - Geschrieben also auch diesen Brief - zwar wirklich den 12. Mai. Doch stehe ich nicht dafür, daß Sie ihn nicht eher erhalten,' als ob er einen Posttag später geschrieben wäre.
 

Christoph Martin Wieland an Anne Germaine de Staël

Weimar, den 8. April 1804.

Madame, Seit Sie sich von Weimar entfernt haben, sind wir zu dem Naturzustand zurückgekehrt, den Sie von uns kennen: dem Zustand friedlicher, eintöniger und manchmal ein wenig fader Unschuld, ungefähr so, wie sich die römischen Katholiken den Zustand gestorbener, ungetaufter Kinder vorstellen. Wir langweilen uns gemeinsam mit einer Biederkeit und einer Gutgläubigkeit, die die Mutter Natur, sagt man, nur den Deutschen zugebilligt hat,und unter ihnen vor allem den Bewohnern kleiner Städte, Residenzen kleiner Fürstenhöfe.Trotzdem glaube ich zu verstehen, wie es möglich ist, daß es Augenblicke gibt, in denen Sie in der schönen Umgebung der schönen und großen Hauptstadt des preußischen Staates sich zwar nicht nach dem langweiligen Nest von Weimar sehnten, aber nach einer kleinen Gesellschaft von Menschen, die mit dem Nachteil der Anspruchslosigkeit das Verdienst verbinden, wahr, vernünftig, fähig Sie zu verstehen und empfänglich für Ihre außerordentlichen Fähigkeiten zu sein. Ich zweifle indessen nicht, daß Berlin Ihnen von Tag zu Tag mehr gefallen wird; ich halte es für möglich, daß Sie dort eine Gesellschaft finden, die Ihnen in jeder Hinsicht zusagen wird, was hier nicht der Fall sein konnte, wo gerade diejenigen, die sich vielleicht am besten mit Ihnen verstanden hätten, den Nachteil haben, sich nur stotternd mit Ihnen unterhalten zu können.
     Darf ich es wagen, Sie zu fragen, Madame, ob Fichte gut genug Französisch spricht, um sich mit Ihnen über philosophische Gegenstände unterhalten zu können? Ich kenne den jüngeren der Brüder Schlegel nur sehr wenig, aber es genügt, daß Sie eine Schwäche für ihn haben, um ihn für sehr liebenswürdig zu halten, und in diesem Punkt würden alle hiesigen Damen, die ihn kennen, angefangen mit der Herzoginmutter, Sie gegen mich mit starker Hand unterstützen, wenn ich ungehörig genug wäre, daran zu zweifeln. Übrigens verheimliche ich ihnen nicht, daß ich gewünscht hätte, daß die Freundschaft, mit der Sie mich ehren, Sie nicht dazu veranlaßt hätte, sich zu meinen Gunsten bei ihm zu verwenden. Alles, was Sie ihm sagen können, kommt zu spät; das Übel, wenn es denn eines gibt, ist nicht zu heilen. Übrigens gibt ihm das eine Bedeutung, die er weder in meinen, noch ich den Augen der Öffentlichkeit hat. Eitel und anmaßend wie er ist, wird er sich einbilden, daß ich Ihre Unterstützung und Ihre Fürsprache bei ihm gesucht habe. Trotz all meiner Gutmütigkeit, und obwohl ich mir so wenig aus meinem literarischen Verdienst mache, behalte ich doch so viel Selbstachtung wie jeder andere auch, und ich mag es nicht, daß Herr Schlegel sich einbildet, mich so weit erniedrigt zu haben. Verzeihen Sie, Madame, daß ich auf eine solche Lappalie wie diese so viel Gewicht lege, und ich bitte Sie inständig, daß wir sie zwischen uns nie wieder erwähnen.
     Mademoiselle von Göchhausen ist zu Recht sehr stolz auf die Auszeichnung, mit Ihnen zu korrespondieren, und da sie zu meinen besten Freundinnen gehört, versäumte sie es nicht, mich dadurch glücklich zu machen, daß sie mich ihres liebenswerten Gedenkens versicherte. Ich schmeichle mir, daß Sie sehr genau in meiner Seele gelesen haben, um zu ahnen, wie sehr ich es bin dank der Aussicht, einen Teil des kommenden Juni in Ihrer Nähe im angenehmen Schatten von Weimar und Tiefurt zu verbringen. Ich gestehe Ihnen, daß ich nicht zu hoffen gewagt hatte, daß Sie so ernsthaft entschlossen waren, Ihren Freunden in Weimar ein so kostbares Zeichen Ihrer Zuneigung zu geben. Einen Monat der schönsten Jahreszeit mit Madame de Staël auf dem Lande verbracht zu haben, wird für mich eine reichliche Entschädigung für alles sein, was ich durch den Umstand verloren habe, 30 oder 40 Jahre zu früh für Sie auf die Welt gekommen zu sein. Um mit meinem Schicksal zufrieden sein zu können, genügt es, daß es mich lang genug hat leben lassen, um noch in einem Alter, das nur von Erinnerungen lebt, das Glück genießen zu können, eine Dame zu sehen, zu hören und von ihr ein wenig geliebt zu werden, die inmitten einer Geßnerschen Schäferszene den erhabendsten und bezauberndsten Geist in sich vereinigt und in meinen Augen immer die Erste ihres Geschlechts ist und sein wird, weil sie Vorzüge besitzt, die selten miteinander verbunden sind. Das ist, Madame, ein für allemal mein Bekenntnis, denn seit langem rede ich nicht mehr gern von meinen Gefühlen mit denjenigen, die mir die größten Gefühle eingeben.
     Man wird Ihnen schon über die große Neuigkeit in Weimar berichtet haben, das Schauspiel »Wilhelm Tell« von Schiller. Diese Art von Drama, in Deutschland unter dem Namen Schauspiel gekannt, ist Euch Franzosen ebenso wie den Alten unbekannt gewesen. Es hat große Vorzüge. Man macht ein Schauspiel, und man ist oder glaubt sich dadurch von allen Gesetzen der Tragödie befreit. Wilhelm Tell scheint fast die gleiche Reaktion bei allen Zuschauern ausgelöst zu haben. Man hat darin einige Szenen von größter Schönheit gefunden. Aber alle sind sich darin einig, daß es nicht der Mühe wert war, sich die ganze geschichtliche Darstellung von Tschudi dienstbar zu machen und die Haupthandlung unter dem Gewicht von drei bis vier Episoden zu ersticken, um daraus ein Stück von fünf tödlichen Aufführungsstunden zu machen.n wollen, Wenn der Dichter mit 3 statt 5 Stunden sich hätte zufrieden geben wollen, hätte er aus seinem Tell vielleicht das interessanteste von allen Stücken machen können, die auf dem deutschen Theater erschienen sind. Hier könnte man Hesiods Rätsel anwenden, daß die Hälfte mehr als das Ganze ist.
     Aber ich merke allmählich, daß ich mich zu dem Laster aller Greise hinreißen lasse, und daß es gut ist, Sie von meinem Geschwätz zu befreien. Ich schließe also, indem ich Sie meiner aufrichtigen Verehrung und herzlichen Zuneigung versichere. Wieland.
 
     P.S. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen danken soll, Madame, für die Mühe, die Sie liebenswürdigerweise darauf verwendet haben, meinen leidlich wohlklingenden Familiennamen zu verschönern oder vielmehr wohlklingender zu machen, indem Sie ihn in »Vielande« verwandeln. Aber weil es für meine Selbstachtung wichtig ist, daß man weiß, daß Sie an mich und nicht an einen Hernn Vielande (der nicht die Ehre hat, in Deutschland bekannt zu sein) schreiben, werden Sie sehr verdienstvoll handeln, wenn Sie mir meinen Namen so wiederherstellen, wie ich ihn von meinen Vätern vor mehreren Jahren erhalten habe.
 
[Im Original Französisch. - Übersetzung: Hildegard Bock]